26. September 2019
Foto: Brasil247

Der Spanier Baltasar Garzón wurde 1998 international bekannt, als er als Richter der Nationalen Anhörung (ähnlich wie der brasilianische Oberste Gerichtshof) die Verhaftung des chilenischen Diktators Augusto Pinochet, der damals in London lebte, wegen Verbrechen gegen spanische Bürger anordnete, basierend auf dem Bericht der Chilenischen Wahrheitskommission. In Sao Paulo, wo er die Ergebnisse der brasilianischen Version der Kommission erörterte, besteht der Menschenrechtsverteidiger darauf, dass der frühere Präsident Lula ein politischer Gefangener ist.

„Lula war das Ziel politischer Verfolgung, um ihn als Politiker zu neutralisieren, obwohl er eindeutig die Vorliebe des Volkes hatte. Und das ist kein Zufall“ , sagt er und setzt den gesamten Prozess gegen Lula Schachmatt. “Dieser Verdacht der Voreingenommen stellt so gut wie alles in Frage.”

Anders als im brasilianischen Fall hat Baltasar Garzón nie einen ehemaligen Präsidenten in Chile in Gefangenschaft gesehen. Pinochet war 503 Tage in London inhaftiert, bevor er in sein Land zurückkehrte und starb, bevor er 2006 verurteilt wurde. Das hat aber seinem Ruf nicht geschadet, er wurde als „Starrichter“ bezeichnet, wurde zweimal als Kandidat für den Friedensnobelpreis genannt und wird bis heute für die Verhaftung des Diktators anerkannt.

Garzón war auch an anderen prominenten Fällen beteiligt, wie Ermittlungen zu Folter im Guantánamo-Gefängnis und Verbrechen gegen die Menschheit während des Franco-Regimes in Spanien. In diesem Fall erregte er den Zorn der rechtsextremen Gruppen Spaniens. Nachdem er 2012 in drei Prozessen angeklagt wurde, die von den Vereinten Nationen in Frage gestellt wurden, wurde er wegen Hochverrats verurteilt und für elf Jahre von der Justiz suspendiert. Der ehemalige Richter durchstreift weiterhin die Welt, um für die Verteidigung der Menschenrechte zu kämpfen, und nahm am Mittwoch dem 25/09 an der Veranstaltung „Gewalt des Staats und Straflosigkeit“ – Empfehlungen der Wahrheitskommission 5 Jahre danach, vom Institut Vladimir Herzog, teil. Vor der Veranstaltung sprach er mit iG Último Segundo.

Lesen Sie das Interview:

Wie wichtig ist Ihnen die Arbeit der Wahrheitskommission?
Für mich ist sie grundlegend. Wenn nach einer Diktatur die Justiz nicht einschreitet, ist eine Reaktion unabdingbar. Diese Reaktion kann in Strafprozessen verübt werden, wie dies in Argentinien der Fall ist, und in anderen Ländern, wie beispielsweise in Brasilien, kann sie durch Justizmechanismen der Wiedergutmachung erfolgen, beispielsweise durch eine Wahrheitskommission, die eine Reihe von Empfehlungen abgibt, die eingehalten werden müssen. Wenn dieses System, das ein akzeptierbares Minimum darstellt, versagt, wird sogar das Prinzip einer Amnestie verletzt, da sie niemals als Gesetz der Straflosigkeit für Verbrechen gegen die Menschheit, des Völkermords, Kriegsverbrechen oder internationale Verbrechen, verstanden werden kann.

Wie können diese Schlussfolgerungen als Instrumente herangezogen werden, damit das Vergessen von Straftaten verhindert wird?
Was in Brasilien fehlt, ist eine stärkere Befugnis der Wahrheitskommission und die Erfüllung ihrer Empfehlungen. Und hier trägt die politische Macht Verantwortung, die dies in Frage stellt oder verhindert; und die Justiz, die keine ordnungsgemäße Einhaltung verlangt.

Die Tatsache, dass Wahrheitsfindung ein Mechanismus der Wiedergutmachung ist, nicht zu akzeptieren, ist sehr ernst und führt immer zu einem Defizit der Demokratie. … Wenn ein Justizsystem nicht reagiert und keine Lösungen für die Probleme eines Landes bietet, muss nach einer neuen Formel gesucht werden. Dies ist das Spiel der Demokratie und dies ist der Impuls, der gegeben werden muss. … Der grösste Fehler, wenn man die Erinnerung als Vergangenheit ansieht, ist, dass es dazu beiträgt, dass ähnliche Ereignisse erneut auftreten. Erinnerung ist Gegenwart und Zukunft. Es ist keine Rache an der Vergangenheit, sondern eine Konstruktion der Zukunft.

Pinochets Verurteilung machte sie bekannt. Er wurde einige Zeit später freigelassen, aber Sie haben bereits behauptet, dass er verurteilt worden wäre, wenn er nicht zuvor gestorben wäre. Wieso sind Sie sich dessen sicher?
Der Fall Pinochet war insofern paradigmatisch, als allein seine Verhaftung von Pinochet in London und seine fast zweijährige Haft Konsequenzen der Katharsis im chilenischen Justizsystem sowie im internationalen Strafjustizsystem hervorriefen. Die Paradigmen haben sich geändert. Als der Diktator nach Chile zurückkehrte, war es nicht mehr dasselbe Land wie zuvor, denn jetzt sagten sogar die politischen Führer: “Lasst ihn nach Chile kommen, wir richten ihn hier.” Das war früher undenkbar. Als er zurückkehrte, wurde sein Fall bereits untersucht, es gab mehrere Klagen wegen verschiedener Straftaten, er stand unter Hausarrest und erlangte seine Freiheit nie wieder. Paradoxerweise verstarb er am 10. Dezember 2006, dem Tag der Menschenrechte.

Wäre dies nicht der Fall gewesen, wäre er entweder verurteilt oder freigesprochen worden. Wenn ich sage, dass er verurteilt worden wäre, dann deshalb, weil er bereits von der Geschichte verurteilt wurde. Er ist auch nicht gestorben, wie seine Befürworter sagen, ohne dass ihn jemand verurteilt hätte. Nein, es gab ein Gerichtsverfahren.

Jetzt haben wir in Brasilien die Verherrlichung von Diktatoren, sogar durch den Präsidenten Jair Bolsonaro. Was denkst du darüber?
Ich finde es eine Schande, dass die politischen Führer ein so kurzes Gedächtnis haben. Sie vergessen, dass Diktaturen immer Bürger angreifen. Wir müssen sicherstellen, dass die Bürger dies nicht vergessen, dass sie nicht von diesen Sirenengesängen eingefangen werden, von den populistischen Reden derer, die eindeutig die Unternehmensinteressen und nicht die Interessen der Gesellschaft verteidigen. Ein Führer, der heute eine Diktatur verteidigt, ist nach allem, was der Menschheit im 20. und 21. Jahrhundert widerfahren ist, inakzeptabel. Dies muss den Bürgern klargemacht werden. Lassen Sie es wissen, reissen Sie die Masken heruntert. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, einen Diktator zu verteidigen, der Verbrechen gegen die Menschlichkeit zugestimmt oder daran teilgenommen hat. Es ist eine Barbarei!

Zum Thema der Justiz in Brasilien, glauben Sie, dass Lula ein politischer Gefangener ist?
Ich habe schon vor langer Zeit gesagt, dass ich der Meinung bin, dass Lula nicht nur ungerecht behandelt, sondern auch politisch verfolgt wird. Mit den Enthüllungen bestimmter Verhaltensweisen und der Kommunikation zwischen Institutionen, die in ihrer Verfahrensentwicklung getrennt sein mussten, gewinnen wir Bestätigung für die Fragen, die einige von uns aufgeworfen haben. Daher glaube ich, dass Lula das Ziel politischer Verfolgung war, um ihn als politischen Akteur zu neutralisieren , weil eindeutig die Präferenzen des Volkes hatte. Und das kommt nicht von ungefähr.

Dieser Verdacht auf Voreingenommenheit beschmutzt so gut wie alles. Und es trägt noch mehr dazu bei, dass der Angekläger in dieser Untersuchung eine Position in der Exekutive des Hauptbegünstigten erhalten hat. Der Interessierte hätte wahrscheinlich „Nein“ sagen sollen, als ihm diese politische Position vorgeschlagen wurde, da dies gezeigt hätte, dass die Klage eine Sache ist und die Politik eine andere. Wenn er das nicht getan hat nicht, dann wahrscheinlich, weil er es nicht konnte oder weil er es nicht wollte. Das muss hinterfragt werden.

Was sind die Konsequenzen, wenn ein Richter wie ein Superheld behandelt wird?
Manchmal nannten sie mich in meinem Land einen “Starrichter”. Das Einzige, was ich über viele Jahre getan habe, war die Untersuchung krimineller Tatsachen, die später von anderen Justizbehörden bestätigt und überprüft wurden. Es sind nicht die Menschen, die Superhelden oder Helden sein sollten oder irgendetwas anderes als Beamte. Um seriös zu sein, muss die Untersuchung unabhängig, unparteiisch und glaubwürdig sein. Von da an kann es immer jemanden geben, der sagt, dass ein Richter ungewöhnliche Dinge tut. Ich glaube, dass niemand ein Held ist und jeder die Verpflichtung hat, seine Rolle zu erfüllen. Als Richter war ich Beamter und habe all das getan, was ich glaubte tun zu müssen, weil der Staat mich dafür bezahlt hat.

iG Último Segundo | Übersetzt von Elisabeth Schober, Free LULA – Committee Austria.