Fragen und Antworten zum Fall Lula
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1. Wie viele juristische Verfahren gibt es gegen Lula?
Hunderte.
2. Was sind die Beweggründe für so viele juristische Verfahren gegen Lula?
Seine Gegner sagen, Lula „habe es verdient“. Die Wahrheit ist, dass seine Gegner, die nicht in der Lage sind, Lula bei Wahlen zu schlagen,eine juristische Farce konstruiert haben, mit dem Ziel die bedeutendste populäre Führungskraft in der Geschichte Brasiliens zu verurteilen und hinter Gitter zu bringen. Und: je mehr juristische Verfahren sie anstrengen, umso stärker entsteht der Eindruck, „wo Rauch ist, da ist auch Feuer“.
3. Wie viele juristische Verfahren sind abgeschlossen?
Keines. Das am weitesten vorangeschrittene Verfahren bezieht sich auf das Apartment in Guarujá, wo bereits in zweiter Instanz entschieden wurde. Dann kommt das Verfahren um das Landhaus in Atibaia, dessen Urteil in erster Instanz am 6. Februar 2019 verkündet wurde. Anschliessend folgt ein Verfahren um das Grundstück des Lula-Instituts, das gerade in erster Instanz entschieden wird.
4. Wenn bis jetzt kein Verfahren abgeschlossen ist, müsste Lula dann nicht aus der Haft entlassen werden?
Auf jeden Fall. Laut brasilianischer Verfassung müsste Lula sich in Freiheit den Verfahren stellen.
5. Wenn die Verfassung sagt, dass Lula frei sein müsste, was sind die Gründe seiner Haft?
Lula ist im Gefängnis, weil das Oberste Bundesgericht mit einer Stimme Mehrheit entschieden hatte (6 gegen 5), Lula zu inhaftieren, obwohl er erst in zweiter Instanz verurteilt worden war.
6. Aus welchen Gründen ordnete der Oberste Gerichtshof Lulas Haft an?
Die Mehrheit der Richter des Obersten Bundesgerichts wurde von den Medien und dem Oberkommando der Streitkräfte regelrecht erpresst. Sie wurden unter Druck gesetzt gegen Ex-Präsident Lula zu stimmen, um ihn weiterhinin Haft zu halten.
7. Aber warum wurde Lula in zweiter Instanz verurteilt?
Weil die Kammerrichter des 4. Regionalen Bundesgerichts, die schriftliche Urteilsbegründung des Richters der ersten Instanz übernahmen, obwohl es darin keinen einzigen Beweis gegen Lula gegeben hatte. Er wurde aufgrund von „nicht näher bestimmbaren Taten“ verurteilt!
8. Wer war der Richter in erster Instanz?
Zu diesem Zeitpunkt war es Sérgio Moro, aktuell der Justizminister der Regierung Bolsonaros! In der Tat: Der Richter, der Lula als erster verurteilt und schuldig gesprochen hat, der Richter, der entscheidend dazu beigetragen hat, Lula aus dem Wahlkampf herauszunehmen, genau dieser Richter hat akzeptiert, Minister desjenigen zu werden, der am meisten von der Verurteilung profitiert hat: Jair Bolsonaro. Dieser hat nur deswegen die Wahl gewonnen, weil Lula daran gehindert wurde, anzutreten.
9. Wenn Lula in São Paulo wohnt, aus welchem Grund wurde er dann vom einem Richter aus Paraná verurteilt?
Weil ein Verfahrensbetrug begangen wurde.
10. Was war das für ein Betrug?
Moro war für die Prozesse, die sich auf Petrobrás bezogen, zuständig. Damit Lula von Moro verurteilt werden konnte, nahm die Generalstaatsanwaltschaft in die verschiedenen Gerichtsverfahren gegen Lula auch Anschuldigen mit Bezug zu Petrobrás auf.
11. Gab es diese Verwicklungen, oder gab es sie nicht?
Es gab sie nicht und es hat sie auch nie gegeben. Das hat Moro selbst bestätigt, der im Urteilsspruch gegen Lula Folgendes geschrieben hat: „Dieses Gericht hat niemals behauptet, weder im Urteil noch an anderer Stelle, dass die in den Verträgen mit Petrobrás für das Bauunternehmen geflossene Beträge zur unrechtmässigen Bezahlung zugunsten des ehemaligen Präsidenten verwendet wurden.“
12. Aber wenn Moro selbst eingeräumt hat, dass die Anklage gegen Lula nicht mit Petrobrás in Verbindung stand, hätte er den Fall dann nicht an einen anderen Richter abgeben und darauf verzichten müssen, Lula zu verurteilen?
Das hätte er. Aber wenn er so gehandelt hätte, dann wäre es nicht zu einer Verurteilung gekommen oder zumindest hätte sie sich noch lange hingezogen. Und sie wollten Lula schnell verurteilen, um zu verhindern, dass er in den Wahlen von 2018 als Präsidentschaftskandidat antritt.
13. Aber auf Grundlage welcher Anklage hat Moro Lula letztendlich verurteilt?
Mit der Anschuldigung, dass er ein Apartment in Guarujá als Gegenleistung für Gefälligkeiten gegenüber einem Baukonzerns erhalten hätte.
14. Hat Lula dieses Apartment bekommen?
Nein. Lula besitzt kein Apartment in Guarujá. Lula hat nie in Guarujá gewohnt. Lula hat keine Schlüssel für irgendeine Wohnung in Guarujá. Auch kein Familienangehöriger Lulas ist Eigentümer einer Wohnung in Guarujá.
15. Aber Moro hat behauptet, dass die Wohnung renoviert worden war, damit Lula darin wohnen könne, oder nicht?
Das hat er behauptet. Tatsächlich aber hat Moro gelogen. Diese Renovierungsarbeiten haben nie stattgefunden. Die Bewegung der Obdachlosen (MTST) hatte die Wohnung besetzt und mit Fotoaufnahmen belegt, dass nie eine Renovierung durchgeführt worden war. Das Reporterteam des Nachrichtendienstes UOL filmte die Wohnung und belegte, dass die Geschichte der Renovierung eine Farce war, erfunden um Lula zu belasten.
16. Und wem gehört letztendlich die Wohnung?
Den Eintragungen im Grundbuch zufolge gehört das Apartment dem Bauunternehmen.
17. Aber wenn dem so ist, auf Grundlage welcher Beweise hat Moro Lula verurteilt?
Auf Grundlage der sogenannten delação premiada, der „belohnten Belastungsaussage“, also Aussage eines Kronzeugen, des Inhabers dieser Baufirma.
18. Was ist eine delação premiada, also „belohnte Belastungsaussage“?
Bei der Kronzeugenregelung kooperiert ein Krimineller mit der Polizei oder der Staatsanwaltschaft. Wenn seine Enthüllungen von Interesse für die Sonderkommission der sogenannten Operation Lava Jato (Waschmaschine) sind, kann der Belastungszeuge dafür belohnt werden: eine beträchtliche Strafmilderung, die Nutznießung eines Teils des geraubten Geldes etc.
19. Aber wenn die Aussage des Firmeninhabers als Beweis verwendet wurde, dann wurde sie doch überprüft?
Sie wurde durch die weitere Aussage eines anderen Kronzeugen bestätigt. Mit anderen Worten: Zwei Kriminelle haben sich zusammengeschlossen, um Beweise gegen einen Unschuldigen zu konstruieren. Ein Unschuldiger wurde verurteilt, der Richter wurde Minister und die Denunzianten sind auf freiem Fuß.
20. Aber hätte dies bei der Verurteilung in zweiter Instanz nicht berücksichtigt werden müssen?
Ja, das hätte es. Aber die Richter der 8. Kammer des 4. Tribunals des Regionalen Bundesgerichtes hatten bereits entschieden, dass Richter Moro gestattet wurde „an der Grenze des Rechts“ zu urteilen. Das heißt, Moro konnte das Gesetz im Fall Lula „interpretieren“. Und als sie selbst an der Reihe waren, haben diese Richter das Gleiche gemacht. Auf diese Weise haben sie einen Verfassungsgrundsatz verletzt: Den der Unparteilichkeit.
21. Wann wird Lulas Fall in dritter Instanz verhandelt?
Der Oberste Gerichtshof (STJ) könnte der Berufung, die von der Verteidigung Lulas im Fall des Apartments von Guarujá eingereicht wurde, zu jedem Zeitpunkt stattgeben.
22. Gibt es eine Chance für einen Freispruch oder eine Strafmilderung?
Die Mehrheit im Obersten Gerichtshof (STJ) ist entschlossen, die Verurteilung aufrecht zu erhalten. Jedoch könnte es eine Veränderung des vom Regionalen Bundesgerichtshof (Tribunal Regional Federal) verhängten Strafmaßes geben.
23. Wenn der Oberste Gerichtshof STJ das Strafmaß mindert, könnte dann Lula freigelassen werden?
Im Prinzip ja. Es kann jedoch nur der davon profitieren, der die entsprechenden Geldstrafen bezahlt. Lula ist nicht nur zu Gefängnis, sondern auch zu einer immensen Geldstrafe verurteilt worden. Abgesehen davon laufen andere Verfahren gegen Lula, die vor dem Abschluß stehen.
24. Wie lautete die Anklage im Fall des Landhauses in Atibaia?
So ähnlich wie die Anklage im Falle der Wohnung. Lula wurde angeklagt, Nutznießer der Renovierung des Landhauses zu sein. Die Renovierungen sollen von einem Bauunternehmen durchgeführt worden sein, das als Gegenleistung von Lula angeblich Vorteile bei Aufträgen erhielt.
25. Gehört das Landhaus Lula?
Nein, das Landhaus gehört Lula nicht. In diesem Fall hatte noch nicht einmal Moro den Mut, das zu behaupten.
26. Hat Lula die Renovierung in Auftrag gegeben?
Nein. In diesem Fall hat zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt hat noch nicht einmal der Kronzeuge den Mut gehabt, so etwas zu erfinden.
27. Wenn aber das Landhaus weder Lula gehört, noch er die Renovierung in Auftrag gegeben hat, worin besteht dann die Anklage?
Darin, dass er letztendlich Nutznießer der Renovierung war. Oder anders gesagt: die Anklage besteht darin, dass Lula acht Jahre lang Präsident von Brasilien war, dass während seiner Regierungszeit ein Bauunternehmen viel Geld verdient hat und dass zum Ausgleich dieses Bauunternehmen die Renovierung eines Landhauses durchgeführt hat, was Lula nicht gehörte, was er aber nutzte.
28. Hat Lula das Landhaus wirklich für sich genutzt?
Ja. Das Landhaus gehört einer Familie, mit der Lula seit 1978 befreundet ist.
29. Ist Lula auch in diesem Prozess bezogen auf das Landhaus verurteilt worden?
Ja. Am 6. Februar 2019 hat die Richterin Gabriela Hardt (als von dem heutigen Justizminister Sérgio Moro handverlesene Vertreterin) Lula wegen der Verbrechen passiver Korruption und Geldwäsche zu 12 Jahren und 11 Monaten Gefängnis verurteilt. In diesem Fall wurde das gleiche Prozedere angewandt, wie im Fall des Apartments von Guarujá, insbesondere die Kronzeugenregelung.
30. Und worin besteht die Anklage im Fall des Grundstücks des Lula-Institut?
Die Anklage besteht darin, dass ein Bauunternehmen das Lula-Institut mit einem Grundstück belohnt haben soll, als Gegenleistung für Vergünstigungen, die Lula als Präsident dem Unternehmen gewährt habe.
31. Hat das Lula-Institut dieses Grundstück tatsächlich bekommen?
Nein, niemals!
32. Gut. Wenn nun das Lula-Institut dieses Grundstück niemals erhalten hat, wessen wird dann Lula angeklagt?
Ob du’s glaubst oder nicht: Er ist angeklagt, ein Verbrechen beabsichtigt zu haben.
33. Soll das ein Witz sein?
Nein. Die Generalstaatsanwaltschaft macht hier Witze, aber voll pervers und daneben. Denn alles ist darauf angelegt, dass Lula auch in diesem Fall verurteilt werden soll.
34. Auf der Grundlage welcher Beweise?
Wiederum auf der Grundlage von Kronzeugenaussagen, denen zufolge Lula die Absicht gehabt hätte, das Verbrechen zu begehen, sich von einem Bauunternehmen dieses Grundstück schenken zu lassen.
35. Also wird Lula in den nächsten Wochen erneut verurteilt werden können?
Ja, und er wird sogar in dritter Instanz verurteilt werden können, in jenem ersten Prozess zu dem Apartment in Guarujá.
36. Gibt es außer den Gerichtsverfahren zur Wohnung, zum Landhaus und zum Grundstück noch einen anderen Prozess gegen Lula, der relevanter wäre?
In der Tat: es gibt eine Klageerhebung (ação penal) nach welcher Lula von 2002 bis 2016 der Chef einer “kriminellen Vereinigung” war, die zum Ziel hatte, die Bundesregierung so zu kontrollieren, dass er freie Hand für seine Verbrechen hatte.
37. Was war das für eine “kriminelle Vereinigung”?
Gemäß dieser Klageerhebung heißt die von Lula angeführte kriminelle Vereinigung “Arbeiterpartei”, also die PT (Partido dos Trabalhadores). Nach den Maßstäben und dem Vorgehen der Opertion Lava Jato (“Waschanlage”) ist die PT keine Partei, sondern eine “orcrim” (port. Abk. für organisierte Kriminalität), also eine kriminelle Organisation. Das Ziel dieser Klageerhebung ist klar und deutlich: nicht nur Lula soll verurteilt werden, sondern auch die ganze PT. Und wenn die PT verurteilt ist, dann beabsichtigen sie, ihr die Zulassung als Partei zu entziehen.
38. Sind das die Gründe, dass so viele Menschen darauf bestehen, dass Lula unschuldig ist?
Zweifellos. Wer die Geduld aufbringt, tausende Seiten von Prozessakten zu lesen, insbesondere das Urteil von Sérgio Moro im 1. Prozess, dem wird klar, dass es keine Beweise gibt, Lula zu verurteilen. Und wenn es keine Beweise gibt, dann kann niemand verurteilt werden. Nach dem Grundsatz: Ein jeder ist unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils. Und im Fall Lula ist der Beweis des Gegenteils bis jetzt nicht erbracht und wird auch nicht erbracht werden. Deshalb haben renommierte Juristen auf der ganzen Welt einschließlich der UNO-Kommission für Menschenrechte gegen die Art und Weise protestiert, in der diese Prozesse gegen Lula geführt werden.
39. Woher nimmst du die Gewissheit, dass nicht doch noch Beweise auftauchen?
Ganz einfach: Lula wird seit 1980 immer wieder überprüft. Niemals ist auch nur ein einziger Beweis für ein Vergehen gefunden worden. Bei seinen Gegnern reicht schon eine geringe Untersuchung um Beweise zu erhalten. Siehe den Fall der Familie Bolsonaro.
40. Selbst wenn es keine Beweise gibt, kann ich mir nicht vorstellen, dass Lula eine reine Weste hat?
Jeder kann seine eigene Meinung haben. Und wenn du mit oder ohne Beweise davon überzeugt bist, dass Lula schwerwiegende Fehler gemacht hat, hast du das Recht, ihn und seine Partei nicht zu wählen. Aber ohne Beweise darf niemand verurteilt und inhaftiert werden! Das ist der Unterschied zwischen Politik und Rechtsprechung.
41. Erkläre diesen Unterschied besser.
Im politischen Disput, bei Wahlen, kann ich glauben, dass jemand für das Land eine Gefahr darstellt. In diesem Fall kann ich gegen denjenigen stimmen. Um zu diesem Schluß zu kommen, brauche ich keine Beweise. Es genügt die Überzeugung. Aber wenn es sich um einen Urteilsspruch in einem Gerichtsverfahren handelt, dann genügt meine Überzeugung nicht. Dann ist es notwendig, echte Beweise zu haben.Und im Fall Lula gibt es keinen einzigen Beweis.
42. Also, wenn es keinen einzigen Beweis gibt und Lula trotzdem verurteilt worden ist, dann waren es doch die Staatsanwälte und Richter, die sich nicht an das Gesetz gehalten haben.
Genau. Deshalb ist Lula ein politischer Gefangener. Er wird aus politischen Gründen verfolgt und ist darum im Gefängnis. Da seine Gegner Lula politisch nicht besiegen konnten, haben sie es auf andere Weise gemacht: Sie haben das Justizsystem benutzt.
43. Wenn es aber so ist, wird Lula ungerecht behandelt. Wie kann Lula befreit werden?
Da Lula ein politischer Gefangener ist, hängen seine Freilassung und die Annulierung seiner Strafe vom politischen Kampf ab. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung überzeugt ist, dass die Verurteilung ungerecht und illegal ist, dann wird der Druck des Volkes es unmöglich machen, Lula weiter in Haft zu halten.
44. Und du meinst, dass das geschehen wird?
Ja, das wird kommen. Früher oder später werden Gerechtigkeit und Wahrheit siegen. Die Herausforderung für uns ist, dass dies möglichst bald passiert. Wir wollen das Urteil aufheben, damit Lula frei kommt und so dem brasilianischen Volk hilft im Kampf gegen die ultrarechte Regierung, die unsere sozialen Rechte, unsere demokratischen Freiheiten und unsere nationale Souveränität zerstört.
Autor: Valter Pomar – Historiker, Prof. für internationale Beziehungen der Bundesuniversität des ABC.
Valter Pomar | Photo: Archiv | Üersetzt von Ellen Spielmann, Nina Hilgenboeger und Christian Wendt.